Aber es gibt auch noch die andere Seite in kleinen und doch sehr komplexen Landstrich.
An einem der ersten Abende noch dem gemeinsamen Abendmahl setzte ich mich telefonisch mit Ester Golan in Kontakt.
Es dauerte nicht lange und sie meldete sich mit einem kurzen „Ja!“. Ich erkannte die Stimme sofort. Sie hat sich in ihrer Frische während der letzten zehn Jahre, in denen ich keinen Kontakt, war fast unverändert. Ich stellte mich kurz vor und äußerte meinen Wunsch sie in den nächsten Tagen zu treffen. Sie erinnerte sich an meinem Namen nicht, fragte aber „Wann hast du Zeit? Wo wohnst du?“ Ich hatte sofort Zeit. „Dann steh auf und komm!. Geh die Agronstrasse rauf, über die King George V, dann bist du in der Rambanstrasse, in die Ussishkinstrasse. In zwanzig Minuten bist Du bei mir!“. Das ging schnell! Ich folgte Esters Anweisungen. Es dämmerte bereits als ich mich auf dem Weg machte. Die Beschreibung war recht exakt, so dass ich wirklich nur gute zwanzig Minuten Zeit benötigte.
Ester öffnete mit leicht fragendem Blick, schüttelte leichte den Kopf und meinte, nein sie könne sich nicht mehr an mich erinnern. Das ist kein großes Wunder und immerhin sind es mehr als 10 Jahre, dass ich sie das letzte Mal besuchte. Ja das verstehe ich! Es wären doch viele Menschen gewesen, die sie in den Jahren besucht hätten, meinte ich. „Tausende!“, berichtigte sie mich mit Nachdruck, Tausende, hätten sie besucht und Tausenden sei sie begegnet. Noch immer hielte sie Vorträge in der Holocaustgedenkstätte in Yad Vashem, vor Schulklassen, israelischen Rekrutinnen und Rekruten, Touristengruppen und Kirchengemeinden. Des öfteren wird Ester durch die „Aktion Sühnezeichen“ zu Vorträgen nach Deutschland eingeladen. Viele kennen sie, aber sie könne sich beim besten Willen nicht an jeden erinnern.
Ester hat sich nur wenig verändert. Etwas älter geworden, aber auch das wundert nicht, das letzte Wiedersehen liegt, wie schon erwähnt, mehr als zehn Jahre zurück. Eine kleine Frau mit mit freundlichem Gesicht. Ester ist jetzt 85 Jahre alt. Mit 15 Jahren, das war 1939, verlies sie Deutschland. In Schlesien geboren, wuchs sie dort auf. Damals hieß sie noch Ursula. Ohne Eltern und Geschwister fuhr sie mit einem Kindertransport nach Großbritannien. Dort blieb sie bis Ende des Krieges. 1945 wanderte sie Palästina aus. Die Eltern sah Ester nie wieder. Ihr Vater wurde in Theresienstadt, ihre Mutter in Auschwitz ermordet. Auch ihre Geschwister kamen per Kindertransport, jeder für nach Großbritannien. Ihr Bruder ging zur englischen Armee Soldat später war er deutscher Kriegsgefangener ein Kohlebergwerk in Polen. Nach dem Krieg nach Israel ausgewandert starb er an den Folgen frühzeitig. Ihr Schwester erreichte Israel kurz vor der Staatsgründung 1949. Die Einreise der Schwester war mit Schwierigkeiten verbunden. Die Ester sah ihre Schwester zehn Jahre nicht. Beide fanden nicht mehr richtig den Bezug zu einander. Die Schwester lebt jetzt in Tel Aviv. Sie haben nur wenig Kontakt zu einande. „Die Mutter fehlte als Bindeglied zwischen uns“ Nicht nur dort fehlte sie. „Ich hatte kein Role Model (Vorbild) in meiner Jugend und in meinen jungen erwachsenen Jahren, wie ich mich als heranwachende Frau zu verhalten habe“. Nicht nur Ester ging es so. Viele der damaligen Einwanderer haben ihre ganze Familie verloren. Über die Folgen und Auswirkungen besteht nur wenig gesichertes Wissen „Motherless Daughters“, meinte Ester „ein Thema zu dem man kaum Literatur findet“. Aber auch sonst, es gab unter den Einwanderern nur sehr wenig Alte. Die Kinder der Einwanderer kannten keine Großelterngeneration. Auch in diesem Sinne fehlten Rollenbilder, wie man sich alten und älter werdenden Menschen verhält. Wörtlich meinte Ester „Die Generation meiner Kinder hat nicht gelernt [ihre Angehörigen] zu plegen.“ Ester wollte wissen, ob ich als Kranken- oder Altenpfleger bin und wie die Versorgung der Alten in Deutschland sei. In Israel sie schlecht. Es gäbe zu wenig Angebote für die alten Menschen zu Hause. Im Heim werden sie ja nur wegsperrt. Ihr ginge es nicht drum, dass jemand zum waschen kommt, sondern es fehlten ihr die sozialen Angebote, dass die Alten an der Gesellschaft teilhaben. Das sei in Deutschland ganz ähnlich entgegnete ich ihr. Wir kommen Heime in Deutschland für Shoah-Überlebende. Ester kennt die Heime in Frankfurt und Würzburg und hat sie besucht. Ja, im Alter kommen die Erinnerungen die Konzentrationslager an die Oberfläche zurück. Gesund, Gesund sei keiner der Überlebenden sei keiner der Überlebenden, die vorgegebene Gesundheit sei nur eine Fassade die irgendwann zusammenbricht.
Ester konnte also rechtzeitig ‚flüchten’ meinte ich. „Wir sind nicht geflüchtet!...!“ berichtigte sie mich mit Nachdruck, „…ihr Deutschen müsst mit Euren Begriffen die ihr verwendet aufpassen! Wir sind ausgewandert! Wir haben uns nicht als Flüchtlinge gesehen sondern Auswanderer [ in ein eigenes Land]. Ich räumte ein, wenn ich die verkehrten Begriffe verwende. Wir aneinander vorbeireden.
Ester, damals noch Ursula genannt 1945 in damalige britische Mandatsgebiet „Palästina“, das zwei Jahre später der Verwaltung durch die Vereinen Nationen übergeben wurde und 1949 nach dem Unabhängigkeitskrieg der moderne Staat „Israel“ wurde. Und aus der kleinen Ursula wurde Ester, wie sie mir später anhand einer sehr professionellen Powerpointpräsentation erklärte. Später heiratete sie, bekam vier Kinder. Die erste Zeit in Israel war nicht einfach, anfangs habe sie im Zelt gelebt, dass über ihr zusammenbrach. Dann eine winzige Wohnung, irgendwann eine etwas größere und letztendlich die Eigentumswohnung, in welcher sie jetzt lebt. Sie hätte ein versautes Leben gehabt. Auch ihre Kinder hätten kein gutes Leben gehabt. “Ich habe anfangs in Israel kein Iwrith [Neuhebräisch] verstanden, habe den Kindern nichts vorlesen können. Und es doch wichtig den eigenen Kindern etwas vorlesen, etwas erzählen zu können.“ Erst ihre Enkel, denen ginge es besser. Ein Enkel habe Medizin studiert.
Ich fragt sie was sie eigentlich [beruflich] war. „Such dir was aus! Ich war Nähering, Köchin, Erzieherin, Lehrerin, Fremdenführerin.[usw]...“ Mit 50 habe sie noch zu studieren begonnen. Sie habe Soziologie, Erziehungswissenschaft, Altschersforschung und Tourismus studiert.
Es dauerte bis wir auf die aktuelle Situation in Israel und Palästina zu sprechen kamen. Ich nährte mich nur langsam und vorsichtig dem Thema an. Erzählte von Ester über meine Reise. Interessiert fragte Ester nach, wie Syrien und die Syrer sind und wie sie sich von anderen Arabern unterscheiden. ch berichtete von meinen Eindrücken und Erlebnissen. Und schließlich wollte Ester wissen, welchen Eindruck ich von der Situation in Israel und Palästina, in der Westbank habe. Ich äußerte meinen Eindruck, dass sich jede in Seite in sich zurückgezogen habe, dass ich Müdigkeit und Resignation spüre. „Sie [die Palästinenser] wollen uns nicht! Sie wollen mit uns nichts zu tun haben“ Auch sie [die jüdischen Einwanderer] hätten es in den ersten Jahren nicht leicht gehabt und doch haben wir das Land aufgebaut. Warum bauen die Palästinenser nicht ihr Land auf. Wir diskutierten über die Verhältnisse und Bedingungen in der Westbank. Ich setzte entgegen, dass die Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten, die Abriegelungen und letztendlich die Mauer wohl einer positiven Entwicklung Palästinas entgegenstünde. Aber wir kamen uns mit unseren Positionen nicht wirklich näher. Auch sie sei gegen die Siedler, habe mit mit ihnen nichts zu tun, wandte Ester ein. Aber irgendwo müssen wir leben.
Ester wirkt traurig und etwas verbittert, als sie erzählte, dass einer ihrer Enkel 2002 während der 2. Intifada Jenin gefallen ist. Ein Verwandter [oder Bekannter] kam bei einem Anschlag in einer Yeshiva in Jerusalem ums Leben. „…so lange die Palästinenser nicht aufhören uns mit Anschlägen zu bekämpfen brauchen wir die Mauer“. An jenem Tag als ich Ester das erste Mal besuchte fand Anschlag am Busbahnhof in Jerusalem statt. Wir sahen die dramatischen Szenen in den Abendnachrichten. Der noch fahrende Bagger, der einen Bus und weitere Autos rammte. Schreiende Menschen. Schließlich gelang es einem offenbar einem Zivilisten das Führerhaus besetzen. Letztendlich erschoss er den Baggerführer. Die blutüberströmte Leiche war später zu sehen. Insgesamt starben bei dem Anschlag vier Menschen, darunter eine Mutter, die ihr Baby nur dadurch rettete, indem sie es in der letzten Sekunde aus dem Fenster des Autos war, bevor sie selbst zerquetscht wurde. „Warum tun sie das!“ Der Baggerfahrer habe außerhalb der Mauer, in Ramat Rachel gelebt, wäre doch durch die Mauer nicht eingeschränkt gewesen. Ich weis darauf keine Antwort. Ich bezweifelte in wie weit die Mauer vor Anschlägen wirklich nützen könne und ob die Situation nicht noch mehr verschärft würde.
Aber ich wollte Ester, eine von Grund auf tolerante Frau, nicht weiter mit diesen Fragen quälen. Ich sehe mich dabei angesichts der Lebensgeschichte nicht im Recht, Esters Position zu kritisieren. Es war auch schon spät am Abend. Ich verabschiedete mich. Ging über die King George V und die Ben Yehuda zurück zu meiner Unterkunft. Auf den Strassen herrschte das gewöhnliche abendliche Lebens Jerusalems, als sei kein Anschlag geschehen. Das Leben geht weiter!
Der Abend mit Ester lies mich nicht los. Einige Tage später besuchte ich sie ein zweites Mal. Am Telefon meinte Ester, sie wäre gerne bereit über sich und ihr Leben zu erzählen, spreche aber nicht gerne über die aktuelle Politik. Israel mache Fehler und es gäbe vieles wofür man Israel kritisieren könne. Aber sie sei eben auch Israelin. Ich versprach keine Diskussionen solcher Art anzustoßen, mich interessiere wirklich ihre Lebensgeschichte. Also einige Tage später Ester erneut. Ester berichtete von einem Altentreff, den sie mit einer Freundin aufbaute und ein regelmäßiges Programm anbietet. In ihrem Arbeitszimmer steht ein vollbepackter und aufgeräumter Schreibtisch. Auf ihm auch ein laufendes Notebook mit welchem sie jederzeit íhre Mails abrufen kann. Dort zeigte sie mir eine Powerpointpräsentation für einen Vortrag, den sie demnächst hält in Deutschland hält. In den nächsten Tagen wird sie in Jerusalem an einem Kongress zum interreligiösen Dialog teilnehmen. Gegen Ende des Gespräches meinte Ester „Das ist meine Narrativity [erzählte Lebensgeschichte] und meine Narrativity ist meine Stütze. Die Palästinenser haben ihre eigene Narrativity. Aber sie ist eine andere. Ich bin für meine Narrativity verantwortlich“ und weiter „ ich bin Jüdin, ich bin Zionistin, ich bin Israelin und ich habe die Shoa erlebt. Das sind die Hauptkomponenten meiner Identitaet“