Mittwoch, 16. Juli 2008

Weitere Besuche in der Westbank




I

Ich war auch sonst in der Westbank unterwegs. Ich besuchte Ramallah, die faktische Hauptstadt der Westbank. Palästina ist in sich geteilt. Einerseits in die, durch die PLO/Fatha regierte Westbank, anderseits in den durch die Hamas regierten Gazastreifen. Ramallah ist eine sehr moderne Stadt mit westlich geprägtem Straßenbild. Ramallah ist der Sitz vieler Auslandvertretungen und palästinensischer wie ausländischer Nicht-Regierungs-Organisationen. Zufällig entdecke ich bei meinem ersten Besuch in Ramallah ein Hinweisschild zum ‚Arab Middle East Office’ der Heinrich Böll Stiftung. Ich besuchte Büro nach Voranmeldung während meines zweiten Besuchens in Ramallah Von Ramallah fuhr ich weiter Richtung Norden nach Nablus. Ca. 40 km von Ramallah entfernt befinde ich mich schon wieder tief im arabischen Kulturraum. Anders als in Bet Jala, Bethlehem und Ramallah, ist der Widerstand gegen die Besetzung spürbarer. Ich entdecke Poster mit schwer bewaffneten Widerstandskämpfern. Auf Transparenten wird zur Beendigung der Besetzung und zur Rückkehr der Flüchtlinge aufgefordert. Der Imam der nahe gelegenen Moschee bewirkt das sich die latent angespannte Atmosphäre in meinem Befinden verstärkt. Gleichwohl werde ich von einer am Straßenrand sitzender Gruppe Männer, Kahwa eingeladen. Ich nehme die Einladung gerne an. Da ich am selben Tag zurück nach Jerusalem wollte, blieb ich nicht lange in Nablus. Der Checkpoints am Stadtrand Nablus machte es wie schon bei der Hinfahrt das Taxi bzw. den Bus zu wechseln. Durch einen Gitterlauf ging ich auf dem am Ende stehenden jungen israelischen Soldaten, die Pässe kontrollierten zu. Ein Soldat durchsah meinen Pass sehr genau und entdeckte meine syrisches Visum. Er sprach daraufhin seinen ebenso jungen Kollegen in Iwrith an. Sinngemäß: "Hey Shorty (er andere war eher kleinwüchsig) er war in Syrien“. Gab mir ohne meinen Pass zurück, fragte wo ich denn in Deutschland wohne. „München“ entgegnete ich. Er wäre erst München gewesen, schöne Stadt, gab mir lächelnd meinen Pass zurück und wünschte mir noch einen schönen Tag.

Family Center Bethlehem

Aus Gesprächen ergab sich ein weiter sehr interessanter Kontakt. In Shop der Dormitio-Abtei erfuhr ich von der Unterstützung des Family Centers in Bethlehem. Sr. Maria Grech, eine Franziskanerin, ist die Gründerin und Leiterin des Centers, dem ein Job-Creation-Programm angeschlossen.

Sr. Maria ist eine aufgeschlossene, energiegeladene Frau. Seit sechs Jahren baut sie das Zentrum, in dem palästinensische Familien in schweren schwere Notlagen Hilfe finden auf. Aufgaben des Zentrums sind die Beratung und Unterstützung der Familien

Es steht christlichen, wie muslimischen Familien offen. Anlass für das Aufsuchen des Zentrums s sind verzweifelte Notlagen in welche die oft sehr jungen Familien geraten sind. Die Männer aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Situation arbeitslos. Die finaziellen Grundlagen für eine angemessene Behausung der Familien fehlen so. Missbrauch, Gewalt und Misshandlungen sind keine Seltenheit. In dieser Situation suchen die Frauen das Sr. Maria im Zentrum auf. Zu diesem Zeitpunkt wissen die Partner meist nichts von den Besuchen im FC.

Sr. Maria führt dann ein erstes Gespräch mit den oft psychisch sehr beeinträchtigten Frauen. Bei Bedarf folgen weitere Einzelgespräche mit den Frauen. Im Verlauf bittet Sr. Maria, die Hilfe suchenden Frauen beim Nächsten Mal ihren Mann mitzubringen. Anfangs führt meist zu großem Widerstand der Frauen ihre Männer mit einzubeziehen. Das Aufsuchen fremder Hilfen ist zudem ein gesellschaftliches Tabu.

Sr. Maria besteht jedoch darauf: „Ich sage zu den Frauen ‚wenn ich helfen Euch soll, dann muss ich Euch beide sehen und sprechen’ anders geht es nicht“

Hier endet dann der Weg für die muslimischen Frauen. Die konfessionelle Barriere scheint zu hoch um Hilfen einer christlichen Hilfeorganisation mit Wissen und Miteinbeziehung des Mannes zu ermöglichen.

Im Falle der christlichen Familien nimmt der Hilfeprozess seinen weiteren Weg. Weigert sich der Mann mit seiner Frau zum Beratungsgespräch zu kommen, dann schlägt Sr. Maria vor er solle erst alleine kommen. Meistens funktioniert dies dann auch irgendwann.

Der Einzelberatung folgt dann, mit mal mehr mal weniger Überredungskünsten, immer eine Paarberatung in welcher aktuelle die Lebenssituation gemeinsam erörtert wird. Anschließend besucht mit dem Paar die Wohnung. Dabei werden die Ursachen der defizitären Verhältnisse und der psychischen Lage meist schnell zu Tage. Bis zu sechsköpfige Familien leben nicht selten ein einem einzigen winzigen Raum. Teils fehlen Koch- bzw. Waschmöglichkeiten, eine Trennung nach Geschlecht meist nicht möglich. Die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal, Schimmelbefall kommt ist häufig feststellbar.

Zustand der Wohnung wird dokumentiert. Gemeinsam mit einem im Family Center festangestellten Ingenieur wird ein Entwurf, zur Verbesserung der Wohnverhältnisse einschließlich eines Kostenplanes aufgestellt. Mit dem fertigen Entwurf wendet sich Sr. Maria an einen Unterstützerkreis. Geld wird nur für konkrettes Projekte gesammelt.. Die finanzielle Unterstützung kommt zu 100% dem konkreten Projekt zu. Den Verwaltungsaufwand und die Personalkosten des Zentrums übernimmt die ‚Kustodie des Heilige Landes’.

So bald das Geld für Projekt vorhanden ist,stellt Sr. Maria Arbeiter ein. Teils gelernte Handwerker, teils Ungelernte. Jeder Professionelle leitet einige die ungelernten Arbeiter an. Erweitern ungelernte Arbeiter im Sinne eines ‚training on the job’ ihre Fertigkeiten. „So gebe ich arbeitslosen Palästinensern ihre Würde zurück“ meinte Sr. Maria „die Leute kommen zu mir und sagen ‚ich will kein Geld, ich will arbeiten!’“.

Wenn das Projekt abgeschlossen ist, wird das Ergebnis erneut dokumentiert und mit Photos belegt. Eine Kopie der Dokumentation erhalten die jeweiligen Unterstützer.

Ich fragte noch, ob sie auch nach dem Abschluss des Projektes mit den Familien in Kontakt bleibt. Ja, sie bleibe mit den Familien in Kontakt. Ob sie feststellen können ob sich etwas in den Familien geändert hat, frage ich weiter. Oh ja sie könne Ergebnisse feststellen. „Wenn ich frage ob sich etwas im Leben der Familie geändert hat antworten viele sie fühlten sich wie neu geboren“.

Es ist nur ein Tropfen auf den Stein, sie könne nur kurzfristig Arbeit vermitteln räumte Sr. Maria ein. Immerhin ein sehr wichtiger entgegnete ich ihr.

Ich frage nach: Arbeiten auch andere Professionelle wie Ärzte, Psychogen oder Pflegekräfte im Zentrum. „Im Bedarfsfall vermitteln wir an Ärzte und Psychologen. Wir stehen im engen Kontakt zum Hospital St. Luis in Jerusalem“

Im Zentrum arbeite ein Sozialarbeiter. Der überwiegende Anteil der Frauen bestehe aber darauf mit ihr zu sprechen. Warum? Sr. Maria stellte diese Frage auch den Frauen, die darauf bestehen nur mit ihr zu sprechen. Die Antwort: „They want me, because I’m a Sister and I’m a foreigner”

Der Gang zum Family Center stellt für die Frauen eine große Überwindung dar. Sr. Maria in ihrer Rolle als Ordensfrau und als Ausländerin, die nicht Teil der palästinensischen Gesellschaft ist, stellt dabei eine besondere Vertrauensperson und Schutz für die Hilfesuchenden dar. In dieser Art und Weise schützen die Frauen ihre Familie vor weiteren Stigmatisierungen.

Ich frage weiter nach, ob im Rahmen des Erstkontakts die hilfesuchenden Frauen das Zentrum auf oder auch das Family Center kritische Wohnverhältnisse aufsuchen

Sr. Maria entgegnete: „Zuerst suchen immer die Frauen das Zentrum auf. Das Aufsuchen der Wohnungen im Erstkontakt ist tabu. Und es immer die Frauen und nie die Männer die das Family Center aufsuchen“

Es scheint so, dass es kultur- und sozialschichtübergreifend Frauen die Initiative übernehmen, die Familie und jedes Mitglied vorm dem Verfall und Stigmatisierung bewahren, das ist nicht besonders überraschend, aber doch finde ich beachtlich.

Ich wollte Sr. Maria nicht die wertvolle Zeit rauben. Täglich arbeite sie 9 bis 10 Stunden. Auch am Sonntag ist sie nicht frei von Arbeit. Zwar arbeitet sie dann im Family Center, erledigt dann aber in ihren eigenen Zimmer in der Ordensgemeinschaft die in letzten Woche angefallene Korrespondenz. Außerdem wie sie betont, hat sie ja auch noch Ordensschwester und hat Verpflichtungen gegenüber ihrer Gemeinschaft. Aber, sie liebt ihre Arbeit.

Das muss wohl so sein – Eine beeindruckende Frau.

Ich verabschiede mich. Noch ein kurzer Besuch in der Geburtskirche in Bethlehem, gehe noch etwas durch die Straßen vorbei an den Geschäften und verlasse Bethlehem Richtung Bet Jala.

Ester Golan


Aber es gibt auch noch die andere Seite in kleinen und doch sehr komplexen Landstrich.
An einem der ersten Abende noch dem gemeinsamen Abendmahl setzte ich mich telefonisch mit Ester Golan in Kontakt.

Es dauerte nicht lange und sie meldete sich mit einem kurzen „Ja!“. Ich erkannte die Stimme sofort. Sie hat sich in ihrer Frische während der letzten zehn Jahre, in denen ich keinen Kontakt, war fast unverändert. Ich stellte mich kurz vor und äußerte meinen Wunsch sie in den nächsten Tagen zu treffen. Sie erinnerte sich an meinem Namen nicht, fragte aber „Wann hast du Zeit? Wo wohnst du?“ Ich hatte sofort Zeit. „Dann steh auf und komm!. Geh die Agronstrasse rauf, über die King George V, dann bist du in der Rambanstrasse, in die Ussishkinstrasse. In zwanzig Minuten bist Du bei mir!“. Das ging schnell! Ich folgte Esters Anweisungen. Es dämmerte bereits als ich mich auf dem Weg machte. Die Beschreibung war recht exakt, so dass ich wirklich nur gute zwanzig Minuten Zeit benötigte.

Ester öffnete mit leicht fragendem Blick, schüttelte leichte den Kopf und meinte, nein sie könne sich nicht mehr an mich erinnern. Das ist kein großes Wunder und immerhin sind es mehr als 10 Jahre, dass ich sie das letzte Mal besuchte. Ja das verstehe ich! Es wären doch viele Menschen gewesen, die sie in den Jahren besucht hätten, meinte ich. „Tausende!“, berichtigte sie mich mit Nachdruck, Tausende, hätten sie besucht und Tausenden sei sie begegnet. Noch immer hielte sie Vorträge in der Holocaustgedenkstätte in Yad Vashem, vor Schulklassen, israelischen Rekrutinnen und Rekruten, Touristengruppen und Kirchengemeinden. Des öfteren wird Ester durch die „Aktion Sühnezeichen“ zu Vorträgen nach Deutschland eingeladen. Viele kennen sie, aber sie könne sich beim besten Willen nicht an jeden erinnern.

Ester hat sich nur wenig verändert. Etwas älter geworden, aber auch das wundert nicht, das letzte Wiedersehen liegt, wie schon erwähnt, mehr als zehn Jahre zurück. Eine kleine Frau mit mit freundlichem Gesicht. Ester ist jetzt 85 Jahre alt. Mit 15 Jahren, das war 1939, verlies sie Deutschland. In Schlesien geboren, wuchs sie dort auf. Damals hieß sie noch Ursula. Ohne Eltern und Geschwister fuhr sie mit einem Kindertransport nach Großbritannien. Dort blieb sie bis Ende des Krieges. 1945 wanderte sie Palästina aus. Die Eltern sah Ester nie wieder. Ihr Vater wurde in Theresienstadt, ihre Mutter in Auschwitz ermordet. Auch ihre Geschwister kamen per Kindertransport, jeder für nach Großbritannien. Ihr Bruder ging zur englischen Armee Soldat später war er deutscher Kriegsgefangener ein Kohlebergwerk in Polen. Nach dem Krieg nach Israel ausgewandert starb er an den Folgen frühzeitig. Ihr Schwester erreichte Israel kurz vor der Staatsgründung 1949. Die Einreise der Schwester war mit Schwierigkeiten verbunden. Die Ester sah ihre Schwester zehn Jahre nicht. Beide fanden nicht mehr richtig den Bezug zu einander. Die Schwester lebt jetzt in Tel Aviv. Sie haben nur wenig Kontakt zu einande. „Die Mutter fehlte als Bindeglied zwischen uns“ Nicht nur dort fehlte sie. „Ich hatte kein Role Model (Vorbild) in meiner Jugend und in meinen jungen erwachsenen Jahren, wie ich mich als heranwachende Frau zu verhalten habe“. Nicht nur Ester ging es so. Viele der damaligen Einwanderer haben ihre ganze Familie verloren. Über die Folgen und Auswirkungen besteht nur wenig gesichertes Wissen „Motherless Daughters“, meinte Ester „ein Thema zu dem man kaum Literatur findet“. Aber auch sonst, es gab unter den Einwanderern nur sehr wenig Alte. Die Kinder der Einwanderer kannten keine Großelterngeneration. Auch in diesem Sinne fehlten Rollenbilder, wie man sich alten und älter werdenden Menschen verhält. Wörtlich meinte Ester „Die Generation meiner Kinder hat nicht gelernt [ihre Angehörigen] zu plegen.“ Ester wollte wissen, ob ich als Kranken- oder Altenpfleger bin und wie die Versorgung der Alten in Deutschland sei. In Israel sie schlecht. Es gäbe zu wenig Angebote für die alten Menschen zu Hause. Im Heim werden sie ja nur wegsperrt. Ihr ginge es nicht drum, dass jemand zum waschen kommt, sondern es fehlten ihr die sozialen Angebote, dass die Alten an der Gesellschaft teilhaben. Das sei in Deutschland ganz ähnlich entgegnete ich ihr. Wir kommen Heime in Deutschland für Shoah-Überlebende. Ester kennt die Heime in Frankfurt und Würzburg und hat sie besucht. Ja, im Alter kommen die Erinnerungen die Konzentrationslager an die Oberfläche zurück. Gesund, Gesund sei keiner der Überlebenden sei keiner der Überlebenden, die vorgegebene Gesundheit sei nur eine Fassade die irgendwann zusammenbricht.

Ester konnte also rechtzeitig ‚flüchten’ meinte ich. „Wir sind nicht geflüchtet!...!“ berichtigte sie mich mit Nachdruck, „…ihr Deutschen müsst mit Euren Begriffen die ihr verwendet aufpassen! Wir sind ausgewandert! Wir haben uns nicht als Flüchtlinge gesehen sondern Auswanderer [ in ein eigenes Land]. Ich räumte ein, wenn ich die verkehrten Begriffe verwende. Wir aneinander vorbeireden.

Ester, damals noch Ursula genannt 1945 in damalige britische Mandatsgebiet „Palästina“, das zwei Jahre später der Verwaltung durch die Vereinen Nationen übergeben wurde und 1949 nach dem Unabhängigkeitskrieg der moderne Staat „Israel“ wurde. Und aus der kleinen Ursula wurde Ester, wie sie mir später anhand einer sehr professionellen Powerpointpräsentation erklärte. Später heiratete sie, bekam vier Kinder. Die erste Zeit in Israel war nicht einfach, anfangs habe sie im Zelt gelebt, dass über ihr zusammenbrach. Dann eine winzige Wohnung, irgendwann eine etwas größere und letztendlich die Eigentumswohnung, in welcher sie jetzt lebt. Sie hätte ein versautes Leben gehabt. Auch ihre Kinder hätten kein gutes Leben gehabt. “Ich habe anfangs in Israel kein Iwrith [Neuhebräisch] verstanden, habe den Kindern nichts vorlesen können. Und es doch wichtig den eigenen Kindern etwas vorlesen, etwas erzählen zu können.“ Erst ihre Enkel, denen ginge es besser. Ein Enkel habe Medizin studiert.

Ich fragt sie was sie eigentlich [beruflich] war. „Such dir was aus! Ich war Nähering, Köchin, Erzieherin, Lehrerin, Fremdenführerin.[usw]...“ Mit 50 habe sie noch zu studieren begonnen. Sie habe Soziologie, Erziehungswissenschaft, Altschersforschung und Tourismus studiert.

Es dauerte bis wir auf die aktuelle Situation in Israel und Palästina zu sprechen kamen. Ich nährte mich nur langsam und vorsichtig dem Thema an. Erzählte von Ester über meine Reise. Interessiert fragte Ester nach, wie Syrien und die Syrer sind und wie sie sich von anderen Arabern unterscheiden. ch berichtete von meinen Eindrücken und Erlebnissen. Und schließlich wollte Ester wissen, welchen Eindruck ich von der Situation in Israel und Palästina, in der Westbank habe. Ich äußerte meinen Eindruck, dass sich jede in Seite in sich zurückgezogen habe, dass ich Müdigkeit und Resignation spüre. „Sie [die Palästinenser] wollen uns nicht! Sie wollen mit uns nichts zu tun haben“ Auch sie [die jüdischen Einwanderer] hätten es in den ersten Jahren nicht leicht gehabt und doch haben wir das Land aufgebaut. Warum bauen die Palästinenser nicht ihr Land auf. Wir diskutierten über die Verhältnisse und Bedingungen in der Westbank. Ich setzte entgegen, dass die Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten, die Abriegelungen und letztendlich die Mauer wohl einer positiven Entwicklung Palästinas entgegenstünde. Aber wir kamen uns mit unseren Positionen nicht wirklich näher. Auch sie sei gegen die Siedler, habe mit mit ihnen nichts zu tun, wandte Ester ein. Aber irgendwo müssen wir leben.

Ester wirkt traurig und etwas verbittert, als sie erzählte, dass einer ihrer Enkel 2002 während der 2. Intifada Jenin gefallen ist. Ein Verwandter [oder Bekannter] kam bei einem Anschlag in einer Yeshiva in Jerusalem ums Leben. „…so lange die Palästinenser nicht aufhören uns mit Anschlägen zu bekämpfen brauchen wir die Mauer“. An jenem Tag als ich Ester das erste Mal besuchte fand Anschlag am Busbahnhof in Jerusalem statt. Wir sahen die dramatischen Szenen in den Abendnachrichten. Der noch fahrende Bagger, der einen Bus und weitere Autos rammte. Schreiende Menschen. Schließlich gelang es einem offenbar einem Zivilisten das Führerhaus besetzen. Letztendlich erschoss er den Baggerführer. Die blutüberströmte Leiche war später zu sehen. Insgesamt starben bei dem Anschlag vier Menschen, darunter eine Mutter, die ihr Baby nur dadurch rettete, indem sie es in der letzten Sekunde aus dem Fenster des Autos war, bevor sie selbst zerquetscht wurde. „Warum tun sie das!“ Der Baggerfahrer habe außerhalb der Mauer, in Ramat Rachel gelebt, wäre doch durch die Mauer nicht eingeschränkt gewesen. Ich weis darauf keine Antwort. Ich bezweifelte in wie weit die Mauer vor Anschlägen wirklich nützen könne und ob die Situation nicht noch mehr verschärft würde.

Aber ich wollte Ester, eine von Grund auf tolerante Frau, nicht weiter mit diesen Fragen quälen. Ich sehe mich dabei angesichts der Lebensgeschichte nicht im Recht, Esters Position zu kritisieren. Es war auch schon spät am Abend. Ich verabschiedete mich. Ging über die King George V und die Ben Yehuda zurück zu meiner Unterkunft. Auf den Strassen herrschte das gewöhnliche abendliche Lebens Jerusalems, als sei kein Anschlag geschehen. Das Leben geht weiter!

Der Abend mit Ester lies mich nicht los. Einige Tage später besuchte ich sie ein zweites Mal. Am Telefon meinte Ester, sie wäre gerne bereit über sich und ihr Leben zu erzählen, spreche aber nicht gerne über die aktuelle Politik. Israel mache Fehler und es gäbe vieles wofür man Israel kritisieren könne. Aber sie sei eben auch Israelin. Ich versprach keine Diskussionen solcher Art anzustoßen, mich interessiere wirklich ihre Lebensgeschichte. Also einige Tage später Ester erneut. Ester berichtete von einem Altentreff, den sie mit einer Freundin aufbaute und ein regelmäßiges Programm anbietet. In ihrem Arbeitszimmer steht ein vollbepackter und aufgeräumter Schreibtisch. Auf ihm auch ein laufendes Notebook mit welchem sie jederzeit íhre Mails abrufen kann. Dort zeigte sie mir eine Powerpointpräsentation für einen Vortrag, den sie demnächst hält in Deutschland hält. In den nächsten Tagen wird sie in Jerusalem an einem Kongress zum interreligiösen Dialog teilnehmen. Gegen Ende des Gespräches meinte Ester „Das ist meine Narrativity [erzählte Lebensgeschichte] und meine Narrativity ist meine Stütze. Die Palästinenser haben ihre eigene Narrativity. Aber sie ist eine andere. Ich bin für meine Narrativity verantwortlich“ und weiter „ ich bin Jüdin, ich bin Zionistin, ich bin Israelin und ich habe die Shoa erlebt. Das sind die Hauptkomponenten meiner Identitaet“